🕰 Im Geschichtenarchiv
Das Geschichtenarchiv liegt im alten Turm von Hauskirchen, dort, wo früher die Glocke hing, die sonntags den ganzen Ort wachrief. Jetzt ist der Turm stiller geworden, nur manchmal hört man das leise Knistern von Papier, ein ungeduldiges Blättern, oder das Räuspern eines besonders alten Buches.
Zwischen hohen Regalen, die sich wie schiefe Wächter aneinander lehnen, wohnt Brösel.
Also, nicht richtig wohnt, wie Menschen das tun. Aber er hat es sich hier gemütlich gemacht, gleich oben unter dem Dach, neben dem Regal der „unerklärlichen Begebenheiten“. Dort steht seine Kiste aus Kirschholz, die er einst auf dem Dachboden des Pfarrhauses gefunden und mit Samt ausgekleidet hat. Obendrauf eine geblümte Decke, daneben eine Teetasse, die fast so groß ist wie er selbst. Und irgendwo dazwischen ein winziger Kompass, der seit Jahren nur nach Westen zeigt, aus purer Dickköpfigkeit.

Wenn der Wind durch die Ritzen des Turms pfeift, rascheln die Seiten der Bücher wie ein Schwarm schlafloser Geschichten. Dann hebt Brösel sein Näschen, zwinkert den verlegenen Regalen zu und murmelt:
„Pssst, meine Lieben, gleich geht’s wieder los.“
Und kaum hat er das gesagt, zittert irgendwo eine Buchseite, ein Satz hebt an zu leuchten, und schon beginnt das nächste Abenteuer, das irgendwo zwischen Staub, Zauber und Pflaumenkuchen duftet.
Gerade will Brösel noch feierlich „Auf in die Geschichte!“ rufen, da kippt seine Teetasse um und ergießt sich in einem plätschernden Bogen über die Chronik von 1873. „Na bravo,“ murmelt er, „jetzt hat die große Trockenzeit auch ihren eigenen Wasserschaden.“
Und genauso fangen seine besten Geschichten an.
An jenem Nachmittag, als der Wind die alten Aktenmappe „Verlorene Jahre“ vom Regal wehte, begann Brösels erstes Zeitabenteuer.
Er wollte sie gerade wieder hinaufstellen, doch da flatterte eine vergilbte Seite heraus, die anders war als die anderen. Sie glühte leicht, als hätte jemand das Sonnenlicht darin vergessen.

Brösel beugte sich darüber, schnupperte vorsichtig (denn er schnuppert lieber, als er liest) und plötzlich kitzelte ihn etwas in der Nase. Ein leises Hatschi! und im selben Moment war das Archiv still.
Oder nein, nicht still, anders.
Die Wanduhr tickte rückwärts, die Schatten krochen nach Osten, und irgendwo draußen krähten Hähne, die längst Geschichte waren.
„Hoppla,“ murmelte Brösel und rückte seine Steampunk-Brille zurecht. „Da hab ich wohl in eine andere Seite geniest.“
Brösels erstes Zeitabenteuer – Der Tag, an dem die Zeit nach Zwetschken roch
Es war ein friedlicher Nachmittag im Hauskirchner Geschichtenarchiv.
Die Sonne lugte durchs hohe Bogenfenster, und Staubkörnchen tanzten in der Luft wie winzige Glühwürmchen, die das Vergessen beleuchten wollten. Brösel saß auf einem alten Stapel Dorfchroniken, die ein wenig nach Mäusekeksen dufteten, und sortierte handschriftliche Zettelchen.
„Eintrag über die verschwundene Krapfenpfanne … Bericht vom Erntedank 1958 … und hier – oh! – die Zwetschkenverordnung von anno dazumal!“
Er stupste das Papier neugierig an. Es war warm. Zu warm.
Da roch es plötzlich süß. Erst nach Kompott. Dann nach frisch gebackenem Kuchen. Dann nach Zeit.
Noch ehe Brösel überlegen konnte, ob Zeit wohl nach Zwetschken schmeckt, begann der Boden unter seinen Pfoten zu glitzern. Ein sanftes „Wuuusch“ und das Geschichtenarchiv verschwand in einem Strudel aus duftendem Dampf.
Als der Nebel sich lichtete, stand Brösel mitten auf einem staubigen Dorfplatz. Frauen trugen Kopftücher, Männer Hüte, und ein Pferdewagen rumpelte vorbei, darauf Körbe voller blauer Früchte.
Eine ältere Frau, mit Armen wie kräftige Hefezöpfe, rief lachend:
„He, Kleiner! Pass auf, dass du nicht über die Zwetschken fällst!“
Brösel zwinkerte.
Er war also irgendwo zwischen Vergangenheit und Bäckerei gelandet.
„Ich bin… äh… Forschungsreisender“, stotterte er höflich.
„Forschung? Dann hilf lieber beim Entkernen, das ist auch Forschung!“
Und schwupps saß Brösel auf einer Holzbank, ein Messer in der Pfote, und schnitt Zwetschken auf.
Er hörte, dass man hier die Früchte nicht einfach aß, man hängte sie in Netzen unters Dach, damit sie über den Winter trocknen konnten. Es roch nach Feuerholz, nach Zucker und einem bisschen Stolz.
Ein kleiner Bub mit Sommersprossen flüsterte ihm zu:
„Weißt du, meine Oma sagt, die Zwetschken speichern Sonnenlicht. Wenn man sie im Winter isst, erinnert man sich wieder ans Lachen.“
Brösel lächelte. Vielleicht war das das Geheimnis der Zeit, sie schmeckte nach Erinnerung.
Als er sich später die Pfoten abwischte, flatterte ein Windstoß durchs Fenster, brachte einen Funken in Bewegung, und ehe er sich versah, sog ihn der Duft wieder heim.
Zurück ins Geschichtenarchiv.
Nur eines blieb zurück: ein goldbraunes Zwetschkenkernherz auf dem Boden.

Brösels Notiz:
„Wenn die Zeit rückwärts tickt, sollte man das Käsebrot festhalten. Es könnte das Einzige sein, das noch in der richtigen Richtung schmeckt.“ 🧀⌛

