Es war einer jener Abende, an denen selbst die Ziegel des alten Turms zu seufzen schienen.
Brösel hatte sich, auf der Suche nach einer Geschichte ĂŒber verschwundene Uhrzeiger, tiefer ins Geschichtenarchiv gewagt, als er eigentlich wollte. Die Treppe knarrte wie ein alter Frosch, und in den Ecken glitzerten Spinnweben wie Sternschnuppen, die zu mĂŒde waren, um zu fallen.
âHallo?â, rief Brösel in die Dunkelheit.
Seine Stimme hallte zwischen Regalen voller vergilbter BlĂ€tter, in denen die Geschichten der vergangenen Jahrhunderte schlummerten. Geschichten ĂŒber Feste, SchneestĂŒrme, erste KĂŒsse und letzte Abschiede, alles fein sĂ€uberlich in Schachteln verpackt, mit Etiketten wie âTrĂ€ume, leicht verstaubtâ oder âGerĂŒchte mit Herzklopfenâ.
Und dann hörte er es.
Ein Rascheln. Kein gewöhnliches, sondern ein bestimmtes, ordentliches Rascheln. Wie das UmblĂ€ttern einer Seite, das schon hundert Jahre geĂŒbt hat, still zu sein.
âHatschi!â
Brösel zuckte zusammen. Aus der Dunkelheit lugte eine Nase hervor. Dann ein Paar BrillenglĂ€ser, groĂ wie Marmeladendeckel. Und schlieĂlich ein Teddy-Kopf mit hellen Haaren, die aussahen, als hĂ€tten sie schon viele BĂŒcher durchstöbert.
âSieh mal einer anâ, brummte der Fremde. âEin Teddy mit Taschenlampe. Das hatte ich seit 1923 nicht mehr.â
Brösel, der in solchen Momenten nie um Worte verlegen war, verbeugte sich leicht.
âBrösel. Geschichtenforscher, Entdecker, Zeitreisender in Ausbildung.â
Der fremde Teddy blinzelte. âBenno. Archivar. HĂŒter des Durcheinanders. Und du stehst auf meiner Liste fĂŒr ungeplante ZwischenfĂ€lle.â
Brösel lachte. Benno nicht. Jedenfalls nicht sofort.
âNa gutâ, murmelte er. âWenn du schon da bist, hilf mir wenigstens beim Sortieren. Ich habe gerade die verlegten Erinnerungen wiedergefunden. Die sind immer so widerspenstig.â
Neugierig beugte sich Brösel ĂŒber den Tisch. Darauf lagen unzĂ€hlige kleine GlĂ€ser mit golden schimmerndem Staub.
âSind das âŠ?â
âErinnerungen, ja. Manche von den alten Hauskirchnern. Wenn man sie öffnet, fliegt manchmal ein Lied heraus. Oder der Duft von frisch gebackenem Brot.â
Brösel schnupperte ehrfĂŒrchtig. âUnd das da?â
âDasâ, sagte Benno und zeigte auf ein Glas mit grĂŒnlichem Schimmer, âist der Nachmittag, an dem die Zeit kurz stehenblieb, weil ein Kind zum ersten Mal Seifenblasen sah. Kostbar. RĂŒhr sie nicht an.â
NatĂŒrlich rĂŒhrte Brösel sie an.
Ein leises plopp, ein feines Flimmern und plötzlich schwebten durch den Raum winzige Blasen, die flĂŒsternde Stimmen trugen.
Benno seufzte.
âIch sagâs ja. Zwischenfall.â
Aber in seinen Augen lag jetzt ein Glitzern, das Brösel sehr mochte.
Sie standen da, der mĂŒrrische Archivar und der unruhige Zeitreisende, mitten im flimmernden Licht tanzender Erinnerungen, die zwischen ihnen umherschwebten wie neugierige Gedanken.
Und Benno sagte leise:
âNa gut. Du bleibst. Aber bring Ordnung ins Chaos, Brösel. Nicht alles, was glitzert, ist eine Geschichte. Manches will einfach nur gehört werden.â
Brösel nickte ernst. Und griff nach seiner Notizfeder.
Denn das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Und, wie sich bald zeigen sollte, der Anfang vieler turbulenter Abenteuer im Geschichtenarchiv.
đ«ïž Brösels Notiz:
âManchmal findet man Freunde nicht im Sonnenschein, sondern dort, wo es leicht nach Staub und Wunder riecht.â

đ Kapitel II â Die entlaufene Geschichte
Am nÀchsten Morgen war das Geschichtenarchiv so still, dass man den Staub beim Tanzen hören konnte.
Brösel hatte die Nacht auf einem BĂŒcherstapel verbracht, eingerollt wie ein Croissant, und wachte mit einem wohlig-schiefen GĂ€hnen auf.
Benno saĂ bereits an seinem Arbeitstisch. Ein kleiner, hellgoldener Teddy mit Nickelbrille, SchĂŒrze und einer winzigen Schreibmaschine, deren Tasten leise klackerten wie Regentropfen auf Blech. Neben ihm dampfte eine Tasse, nicht mit Tee, sondern mit warmem Buchstabenkompott. (Er schwor, das halte seine Geschichten geschmeidig.)
âGuten Morgenâ, brummelte Brösel verschlafen.
âZu spĂ€tâ, schnarrte Benno, ohne aufzublicken. âDer Morgen hat bereits drei SĂ€tze Vorsprung.â
Brösel lachte. âDu bist wirklich ein Archivar, Benno.â
âNatĂŒrlich. Jemand muss ja Ordnung in eure spontanen Ideen bringen. Gestern hast du die Abteilung Vergessene Freuden durcheinandergebracht. Jetzt lĂ€chelt die Erinnerung an die ersten Erdbeeren stĂ€ndig, obwohl sie gar keine Lippen hat.â
Brösel schĂŒttelte sich vor Lachen.
âDann lĂ€chle ich eben mit ihr!â
Benno seufzte, drehte sich um und genau in diesem Moment fiel ihm auf, dass etwas fehlte.
Das Regal âRegionale Legenden und andere Wahrheitenâ war offen. Und leer.
Ein einzelnes Blatt Papier tanzte noch im Luftzug, als hÀtte jemand eilig die Flucht ergriffen.
âBrösel!â
âIch warâs nicht! Diesmal wirklich nicht!â
âDann lauf!â, rief Benno und griff nach seiner winzigen Lupe. âDie Geschichte âDer verschwundene Klang der alten Dorfuhrâ ist entwischt! Wenn sie sich zu weit entfernt, verflĂŒchtigt sie sich und mit ihr das halbe GelĂ€ut von Hauskirchen!â
âNa, das wĂ€r was!â, grinste Brösel, schon in Bewegung. âDann wĂ€râs nachts wenigstens ruhiger!â
âDas ist kein SpaĂ, junger FlausenbĂ€r!â, schnarrte Benno hinterher, wĂ€hrend er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf seinen kurzen Beinen in Bewegung setzte. Sein helles Fell leuchtete im Lampenschein, und seine Brille wippte auf der Nase.
Sie rannten durch die GĂ€nge, vorbei an Regalen mit Aufschriften wie âLachanfĂ€lle mit unklarer Ursacheâ, âAbgebrochene Gedichteâ und âKatzen, die in Geschichten auftauchten, obwohl sie keine Rolle hattenâ.
Aus einem dieser Regale wehte ein leises Kichern.
âDa lang!â, rief Brösel.
Hinter einer TĂŒr mit dem Schild âAkustische Erinnerungenâ flackerte es seltsam.
Als Brösel sie öffnete, stieg ihnen ein warmer Klang entgegen, wie ein Glockenschlag, der sich nicht entscheiden konnte, ob er klingen oder trÀumen wollte.
Und mitten darin schwebte sie, die entlaufene Geschichte.
Sie sah aus wie eine hauchdĂŒnne Wolke aus Buchstaben, die sich stĂ€ndig neu ordnete.
Brösel streckte vorsichtig die Pfote aus.
âNa komm, kleine Geschichte. Wir bringen dich wieder heim.â
Aber die Geschichte kicherte, drehte sich im Kreis und zischte davon, direkt in den Korridor der unerzÀhlten Möglichkeiten.
Benno japste. âOh nein! Dorthin verirrt sich sonst nur das Mittagessen vom letzten Jahrhundert!â
Brösel grinste. âDann wirdâs ja spannend!â
Und weg war er, hinterher, mit flatterndem Ohr und leuchtenden Augen.
Benno blieb stehen, sah dem aufgewirbelten Staub nach und seufzte.
âIch hĂ€tte ahnen mĂŒssen, dass Ordnung nur eine Pause zwischen Abenteuern ist.â
Er setzte seine Brille gerade, packte seine kleine Laterne und folgte Brösel in den leuchtenden Gang.
⚠Brösels Notiz:
âManche Geschichten wollen nicht gelesen, sondern erlebt werden. Und manchmal muss man ihnen hinterherrennen, auch wenn man dabei fast seinen eigenen Faden verliert.â

